Editorial zu „Partizipation“

Liebe Kulturinteressierte,

Corinne_EichnerAn der Oberstufe der als sehr fortschrittlich geltenden Schule, an der ich mein Abitur ablegen wollte, wurde großer Wert darauf gelegt, dass die Schülerinnen und Schüler Demokratie lernen und Mitbestimmungsrechte erfahren sollten. Als Leitung des Kunst-Leistungskurses hatten wir einen jüngeren Lehrer, der sich den Schülern gegenüber sehr offen und zugewandt gab. Für die Kurse dieses Lehrers trugen sich deshalb immer sehr viele Schüler ein. Als es dann darum ging, die Themen des Leistungskurses bis zum Abitur und damit die für unsere Abiturleistungen bestimmenden Inhalte festzulegen, bot er großzügig an, dass wir, die Lernenden, mitentscheiden dürften. Wir diskutierten intensiv und stimmten schließlich über die Vorschläge ab, die uns der Lehrer unterbreitete und legten eindeutige Favoriten fest. Die Themen, die wir dann in den nächsten zwei Jahren im Leistungskurs Kunst bearbeiteten, hatten mit unseren Prioritäten allerdings nur wenig zu tun. Wir waren frustriert
und unsere Motivation für diesen Kurs war dementsprechend.

Nicht überall, wo Partizipation draufsteht, ist auch wirkliche Mitentscheidung für alle drin. Das haben wir damals als Lehrstück über Demokratie immerhin gelernt. Mitgestaltung ist unbequem – oft für diejenigen, die teilhaben wollen, und fast immer für die, die ihre Macht durch Partizipation  teilen wollen oder sollen. Prof. Dr. Max Fuchs führt diesen Aspekt der Partizipation zu Beginn seines Textes ab Seite 7 sehr erhellend aus.

Eine funktionierende Demokratie soll allen die gleiche Chance auf Beteiligung an Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen bieten. Partizipa-tionsmöglichkeiten sind im Grundgesetz fest verankert. Teilhabe zu ermöglichen, ist uns also eine Pflicht – sie wahrzunehmen ist dagegen freiwillig. Mitzusprechen, mitzugestalten und mitzuentscheiden muss aber erlernt, geübt und praktiziert werden. Stadtteilkultur bietet kulturelle Teilhabe für Menschen aller Altersgruppen, aller sozialer und kultureller Hintergründe. Sie ist so etwas wie ein Trainingslager für Demokratie: Empowerment und das Erfahren von Selbstwirksamkeit der Teilnehmer sind natürliche Ergebnisse stadtteilkultureller Arbeit. Mein Kunstlehrer hätte hier eine Menge lernen können.

Eine erkenntnisreiche Lektüre wünscht
Corinne Eichner, Geschäftsführerin

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