Die Grenze der Toleranz ist erreicht, wenn unser Gegenüber in einer Debatte nicht mehr an einer Verständigung interessiert und kein Gespräch mehr möglich ist. Wie es uns gelingen kann, alle in das gesellschaftliche Gespräch einzubeziehen, ist eine zentrale Aufgabe für uns.
Autor: Dr. Carsten Brosda, Senator für Kultur und Medien
Wo sind die Grenzen der Toleranz?
Das Thema der Toleranz und ihrer Grenzen führt mitten ins Herz vieler kulturpolitischer und gesellschaftlicher Debatten. Auf der einen Seite finden wir die Auffassung, dass wir grundsätzlich auf die diskursive und kommunikative Kraft der Verständigung vertrauen sollten und auf der anderen Seite finden wir die Ansicht, dass die Grundlage des Miteinanderredens nur dann vorhanden sei, wenn das Gegenüber die wesentlichen
demokratischen Grundprinzipien mit mir teilt. Beide Positionen haben ihre Gründe.
Unstrittig gibt es jedoch eine klar markierte Grenze der Toleranz: Wenn jemand statt des Weges der kommunikativen Auseinandersetzung, den Weg der Einschüchterung und physischen Bedrohung wählt, dann versucht er oder sie die Freiheit eines anderen in einem nicht zulässigen Maße zu beschneiden. Das dürfen wir nicht zulassen. Der Konsens einer jeden freiheitlichen und offenen Gesellschaft ist: Wir diskutieren über Probleme, wir handeln auch Differenzen aus, aber wir respektieren die Unversehrtheit des anderen. Militanz, ganz gleich welcher Begründung, kann nie eine Lösung innerhalb einer Demokratie sein.
Zivilgesellschaft und Staat müssen klare Kante zeigen
Es ist daher wichtig, dass zivilgesellschaftliche Akteure sich nicht einschüchtern lassen und auch weiterhin klar ihre Position markieren und in die gesellschaftlichen Debatten hineintragen. Die Politik wiederum ist gefordert, pragmatisch zu handeln und beispielsweise Präventionsmaßnahmen oder robuste polizeiliche Maßnahmen gegen Rechtsextremismus umzusetzen. Der Staat ist das Instrument einer freien Gesellschaft und steht mit in der Verantwortung dafür, dass wir alle offene und angstfreie Debatten miteinander führen können.
„Kontrafaktische Unterstellung“ als Bedingung des gesellschaftlichen Gesprächs
Die Kommunikationstheorie von Jürgen Habermas scheint mir immer noch eine der fruchtbarsten und zielführendsten Ideen zu sein, wenn es darum geht zu bestimmen, wann die Grenzen der Verständigungsbereitschaft und damit der Toleranz erreicht sind. Er beschreibt eine „kontrafaktische Unterstellung“ als Voraussetzung eines gelingenden Gesprächs und meint damit die Tatsache, dass wir unserem Gegenüber unterstellen, wirklich an Verständigung interessiert zu sein. „Kontrafaktisch“ deshalb, weil wir manchmal schon vorher wissen, dass das nicht so ist: Wir ahnen, dass wir selbst nicht überzeugt werden wollen oder dass der oder die andere nicht überzeugt werden will. Dennoch hilft es, bis zu dem Punkt, an dem die Unterstellung offensichtlich nicht zutreffend ist, am Habermas’schen Ideal der Verständigung festzuhalten.
Das Gespräch intensivieren!
Wie es uns gelingen kann, auch die Menschen wieder in das gesellschaftliche Gespräch einzubeziehen, die das Gefühl haben, darin nicht vorzukommen, ist eine zentrale Aufgabe für uns alle. Dass rechtsextreme und rechtspopulistische Positionen in den gesellschaftlichen Diskursen wirkmächtiger werden, hat ganz offensichtlich etwas damit zu tun, dass sie auch Menschen, die nicht voll und ganz ihre Ideologie teilen, ein Identifikationsangebot machen, das sie anderswo nicht finden. Die zentrale Frage ist also: Wie holen wir die Menschen ab, die auf der Suche nach Sinn und auf der Suche nach einem Platz in der Gesellschaft sind und wie bieten wir ihnen Anknüpfungspunkte? Wie schaffen wir es, dass alle das Gefühl haben, Teil der gleichen Veranstaltung zu sein? Hier sind kulturelle und soziokulturelle Institutionen ebenso wie die Parteien gefordert, zu beweisen, dass wir aus Vielfalt und der Anerkennung von Vielfalt sehr wohl Gemeinsamkeit schaffen können.
Kulturelle Angebote als Mittler und Katalysator
Kulturelle und soziokulturelle Einrichtungen sind Orte, an denen wir uns in dieser Verschiedenheit treffen und kennenlernen können. Sie müssen daher geschützte Räume sein, in denen wir ohne Angst verschieden sein können und gemeinsam überlegen können, wie wir friedlich miteinander leben wollen.
Die Aufgabe von Kunst und Kultur ist es dabei aber nicht primär, die zerbrochenen Dinge wieder zusammenzufügen. Sie dürfen auch einfach nur darauf aufmerksam machen, was zerbrochen ist. Sie haben die Freiheit, Fragen zu stellen. Die Dinge wieder zusammenbringen – das müssen wir als Gesellschaft tun.
Die Aufgabe des Staates
Die Aufgabe des Staates ist es, diese Offenheit und Freiheit gegen jeglichen Versuch der Einschränkung zu verteidigen. Die Politik muss die „Außenhaut“ kultureller Orte soweit sichern, dass innen die notwendige Offenheit gelebt werden kann. Sie muss die unbedingte Freiheit kultureller Räume sicherstellen. Programmatische Vorgaben obliegen dem Staat nicht. Die konkrete Programmatik entwickelt und entscheidet jede Institution aus sich selbst heraus. Auch staatlich geförderte Kultureinrichtungen unterliegen nicht dem Neutralitätsgebot. Das hat im Frühjahr dieses Jahres die Kulturministerkonferenz in einer gemeinsamen Erklärung beschlossen.
Die neue Relevanz der Kultur
Der Umstand, dass Kultur zu einem Auseinandersetzungsfeld geworden ist, zeigt, dass wir in unserer Gesellschaft bei sehr fundamentalen Fragen angekommen sind. Es geht nicht mehr einfach nur um Freizeitangebote oder Standortpositionierungen, sondern es sind gesellschaftlich, kulturell und politisch eminent wichtige Diskussionen über die grundlegenden Sinn- und Wertestrukturen unserer Gesellschaft im Gange.
Für diese Diskussion sollten alle notwendigen Freiheitsrechte in Anspruch genommen werden können. Dazu gehört auch, dass kulturelle Angebote sperrig sein dürfen, denn nur so kann Adornos Credo Realität werden: „Kunst hat die Aufgabe, Chaos in die Ordnung zu bringen“. Unsere Gesellschaft funktioniert in vielen Bereichen reibungslos, paradoxerweise führt das aber dazu, dass immer mehr Menschen das Gefühl haben, sie seien zwar dabei, nähmen aber nicht teil an dieser gesellschaftlichen Mechanik. Kulturangebote zeigen die Bruchkanten und Möglichkeiten der Selbstwirksamkeit auf.
So fordern und fördern Kultur und Stadtteilkultur unsere Gesellschaft. Dafür brauchen wir sie. Der Staat gewährt die programmatische Freiheit, das zu tun, was die Kulturschaffenden dafür für richtig erachten. Ich hoffe, dass Sie mit dieser Freiheit etwas Sinnvolles anstellen.
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