Das Frühjahr mit Corona haben die Menschen sehr unterschiedlich erlebt. Der Geschäftsführerin der LOLA, Ortrud Schwirz, fallen im Rückblick ihre Privilegien auf – beruflich wie privat.
Autorin: Ortrud Schwirz
Mich bewegt in dieser Zeit die Unterschiedlichkeit der Lebenswelten: oft unvereinbar, manchmal kaum zu fassen in ihrer – auch ungerechten – Andersartigkeit. Besonders spürbar, da sie mit der Pandemie stärker als sonst dieselbe Hintergrundfolie hat. Das gilt im internationalen Vergleich, im Sozialen, in der Bildung, in den grassierenden Deutungsmustern und in den privaten Lebensverhältnissen.
Es beginnt für mich Anfang März in Italien, im Urlaub. Gestern schien noch alles halbwegs normal. Die Menschen eher entspannt. Corona für die Einheimischen wie für uns ein Phänomen der Nachrichten, spürbar auf den Flughäfen, aber im täglichen Leben noch kaum erlebbar.
Heute plötzlich Lockdown, gespenstisch leere Orte. Die offene, gelassene Freundlichkeit der Menschen in der apuanischen Bergtoskana verwandelt sich selbst dort in eher abweisende Distanz. Wir sind noch im Urlaubsmodus, wandern durch sonst begehrte, jetzt komplett einsame Naturschönheiten in lichten Wäldern mit warmen Quellen. Abends in den Nachrichten sehen wir Militärlaster, die Leichen in Bergamo abtransportieren.
Die ersten kleinen Nachrichten von Kolleg*innen erreichen mich: Was mit dieser oder jener Veranstaltung sei. In Deutschland verläuft das Leben aber noch weitgehend normal.
Zurück in Deutschland ändert sich auch dort alles rasend schnell. Quarantäne, Lockdown, neue Kommunikationsstrukturen in Teams und Netzwerken, Rettungsschirme, Kurzarbeit, Anträge…
Um mich herum haben viele Menschen viel Zeit. Ich habe viel zu tun. Und muss schnell viel Neues lernen. Es geht mir gut dabei.
Menschen im beruflichen und privaten Umkreis haben jetzt Angst, fürchten Ansteckung oder um ihre berufliche Existenz. Ich bin gut abgesichert. Und arbeite in einem hervorragenden beruflichen Netzwerk.
Freunden fällt die Decke auf den Kopf: Beengte Verhältnisse, kleine Kinder. Ich habe ein Haus, einen Garten, wohne neben Wald und Wiesen. Mein Arbeitsplatz funktioniert zu Hause technisch besser als im Büro. Ich bin privilegiert.
Andere rufen an und sind einsam. Ich hingegen fühle mich manchmal überfordert von all den Kontaktherausforderungen beruflicher und privater Art: Videokonferenzen, Skype, E-Mail, Google Docs, Telefon. Auch Familie und Haushalt fordern einen höheren Tribut als sonst. Binnen kurzer Zeit häuft es sich derart, ich muss mich entscheiden: die Videokonferenz des Lesenetzwerkes oder das Webinar der deutsch-türkischen Kooperation zum Thema Mehrsprachigkeit und Transkultur. Schon bald muss ich mich darauf einstellen, selbst digitale Workshops und Webinare zu gestalten.
Parallelfilm: Mein Vater stirbt. Nicht unerwartet. Er ist 95 Jahre alt. Seit dem letzten Jahr geht es ihm schlecht. Unerwartet ist das Sterben unter diesen Bedingungen. Er stirbt – zum Glück – zu Hause. Ich unterlaufe entschieden sonst akzeptierte Beschränkungen und fahre oft nach Schleswig-Holstein. Beerdigung unter Corona-Bedingungen: Nur Familie, alles draußen, aber vier Generationen versammelt samt kleinem Welpen, der sein neues Rudel erkundet. Die Sonne scheint, die Luft ist durchsichtig, Vögel zwitschern, Blumen blühen. Auch das wird gerade woanders ganz anders erlebt.