Zur Kernkompetenz der Soziokultur gehört, Beziehungen zwischen den Menschen herzustellen. Das pandemiebedingte Abstandsgebot fordert dafür neue Ansätze und Ästhetiken. Manche davon sollten unbedingt Bestand haben.
Autorin: MECHTHILD EICKHOFF
Beziehungen, Austausch und Ausdruck über Kunst und kulturelles Tun herzustellen, ist Kern von Kulturprojekten. Derzeit wird das Skript von Kunst und Kultur, also die zugrunde liegende Handlungsleitlinie, neu geschrieben. Denn es kristallisieren sich die Qualitäten der Kulturarbeit und insbesondere der Soziokultur unter dem Druck des Abstandsgebots deutlich heraus und werden variantenreich übersetzt oder auch neu erfunden.
Die zentralen Fragen sind: Wie geht Nähe im digitalen Raum und wie im realen? Wie verhandeln wir neue Wirklichkeiten? Wie sieht sinnlich-ästhetische Gestaltung aus? Was müssen wir selbst neu lernen, wo brauchen wir neue Expert*innen? Wie machen wir unsere Kulturprojekte anders sichtbar? Wo findet Soziokultur statt – und wo (noch) nicht?
Zahlreiche Projekte haben sich im laufenden Prozess dem Abstandsgebot angepasst oder es werden bewusst neue Formate entwickelt. Ein Beispiel dafür ist das Theaterprojekt der Gruppe t.a.g. aus Leipzig: Das Projekt über gegenseitige Einblicke in unterschiedliche Lebenswelten wurde angesichts der Kontaktbeschränkungen hybrid. Über Instagram und Facebook sowie analog über einen Briefkasten erhielt die Gruppe viel zahlreichere Statements, wie sehr unterschiedliche Alltage während des so genannten Lockdowns abliefen. Gleichzeitig entwickelten die Projektmacher*innen im Schaufenster eines innerstädtischen leerstehenden Ladenlokals eine interaktive Performance über einen Zeitraum von 14 Tagen.
Im Projekt „365 Tage in Deutschland“ verbanden sich Erzählungen der rumänischen Community über das Ankommen mit denen von Schüler*innen einer Gesamtschule in Berlin über das Hiersein. Als die Schulen im April und Mai 2020 geschlossen waren, schickten die Schüler*innen Clips von zuhause aus, das Projekt war ihnen weiter wichtig und sie konnten sich sichtbar einbringen. Die Ergebnisse sind online zu sehen auf der Seite www.365-tage-in-deutschland.de.
Der Zirkus Alunatic aus Lübeck verteilte Kostüm- und Requisiten-Kisten auf umliegende Dörfer und lässt die teilnehmenden Kinder auch eigenständig Tutorials über eigene Akrobatik-Künste austauschen.
Mit „Damengedeck 2.0“ verlegte der Sommerblut e.V. aus Köln die Geschichte der Emanzipation von 80- bis 90-Jährigen in eine interaktive Zoom-Performance. Sie ermöglicht, die Seniorinnen sowohl im technischen als auch erzählerischen Umgang als autonom und relevant zu erleben.
Beziehungen zu pflegen und zu erhalten, ist aktuell eine entscheidende Fähigkeit, ja Kulturtechnik, da sie eine Gesellschaft außerhalb des Ökonomischen zusammenhält. War gerade der Dritte Ort in Kultur- und Bildungsinstitutionen eingerichtet, spielt sich Kulturarbeit in der Pandemie nun schon am „Vierten Ort“ ab; er ist eine Mischung aus real und virtuell, zentral und dezentral, mobil und stationär, innen und außen – ein bewusst inszeniertes Setting.
Der Fonds Soziokultur fördert seit über 30 Jahren soziokulturelle Projektarbeit, gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, BKM. Seit März 2020 ist alles anders, für alle. Bei den Projekten, die der Fonds Soziokultur im Rahmen der pandemiebedingten Programme INTERAKTION und NEUSTART KULTUR fördert und begleiten darf, lassen sich vier Trends beobachten; sie sind nicht alle neu, aber vielfach noch einmal präzisiert:
- Dezentralität: Ideen, Materialien, „Orte“ und Personal gehen dorthin, wo Menschen leben oder sich „kontaktfrei“ selbständig bedienen und ihre Ideen/Ergebnisse hinzufügen können; das Verhältnis zwischen „Profi und Laie“ verändert sich gewissermaßen durch die Reduzierung von gegenseitigem Einfluss;
- Digitale Integration: Integration digitaler Methoden für den Prozess und die Präsentation als eigene ästhetische und kollaborative Form, das Digitale ist mehr als nur Werkzeug und Bühne;
- Change/Revision: Einrichtungsteams untersuchen ihre Arbeitsweise und ihre Angebote auf die Einbindung des Digitalen, sie erproben Prototypen – als Angebot und Handlungsweise;
- Neue Schnittstellen: neue Professionen und Kooperations-partner*innen wie Programmierer*innen, Agenturen, VR-Labs von Hochschulen, aber auch Sozialdienste als wichtige Partner für die Erreichbarkeit bestimmter Zielgruppen – insbesondere in aktuellen Anträgen/Plänen;
Deutlich ist, dass der Einsatz des Digitalen nicht automatisch Sinn macht, bei manchen Projekten aber sozialer Nähe sogar zuträglich ist und eine besondere Form direkter Kommunikation überhaupt erst ermöglicht. Digitalität kann zu neuen sehr spannenden Ästhetiken führen. Dabei sollte die Kultur die Technik leiten und nicht umgekehrt.
Digitalität ist darin auch eine Denkweise über passend zugeschnittene Angebote und Programme, die Erreichbarkeit herstellen und „Zielgruppen“ zu neuen Akteur*innen werden lassen. Dies geschieht eher nicht in großen Hallen bzw. auf großen digitalen oder realen Bühnen, die Formate passen sich vielmehr konkreteren Themen und Beteiligten an. Dies ist auch eine Chance, einen neuen Blick auf die Gestaltung von bestehenden Kulturorten und solchen, die es werden könnten, zu werfen.
Die derzeitigen Umstände zeigen deutlich, wie und dass soziokulturelle Kulturarbeit entgegen um sich greifender Verunsicherung kulturelle und gesellschaftliche Stabilität und Wirksamkeitserfahrungen herstellen kann. Das ist im besten Sinne demokratisch. Kulturtechnisch lernen wir gerade sehr viel dazu. Es sollte in Zukunft dringend Bestand haben.
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