In Krisensituationen scheinen Bündnisse zwischen Menschen mit ihren verschiedenen Kontexten, Geschichten, Hintergründen und Erfahrungen notwendig. Kulturelle Räume – insbesondere die Stadtteilkultur – bergen ein besonderes Potenzial, sich der komplexen Aufgabe von Begegnung und Verhandlung annehmen zu können. Die lokale Kultur kann dabei Perspektiven aus dem globalen Raum mit Erfahrungen der Region in Beziehung setzen.
Autor: Prof. Dr. Julius Heinicke
Die Gegenwart gebart sich offensichtlich als Krisenzeit. Sowohl Coronapandemie als auch die Energiekrise bringen Bürger*innen in existenzielle Not. Putins Angriffskrieg auf die Ukraine und weitere politische Konflikte weltweit, welche beispielsweise zu Flucht und Migrationsbewegungen führen, sorgen vielerorts für Verunsicherung. Menschen reagieren in diesem Spannungsfeld ganz unterschiedlich. Aus kulturpolitischer Sicht wird jedoch deutlich, dass in erster Linie Kulturkonzepte aufeinanderprallen, die einerseits Traditionen bewahren, abschließende Strategien verfolgen und die Vorstellung eines homogenen Gemeinschaftskörpers untermauern. Andererseits setzen sich mehr und mehr Konzepte durch, welche Wandlungsprozesse und Veränderungen favorisieren, flexibel erscheinen und auf diese Weise auf die kulturellen, politischen, ökologischen, sozialen und gesellschaftlichen Transformationen reagieren.
Dieser polaren Aufladung trotzend, scheinen jedoch in der gegenwärtigen Krisensituation in erster Linie Allianzen und Bündnisse zwischen den Menschen mit ihren verschiedenen Kontexten, Geschichten, Hintergründen und Erfahrungen notwendig. Künste und Kulturen bergen hierbei ein entscheidendes Potenzial, sich der komplexen Aufgabe von Begegnung und Verhandlung annehmen zu können.
Zunächst ein Blick auf die Rahmenbedingungen: Das Grundgesetz garantiert im Artikel 5 Absatz 3 die Freiheit der Kunst und im Artikel 30 die Länderhoheit auf diesem Gebiet. Beides ist von unschätzbarem Wert, da auf diese Weise ein vor politischer Instrumentalisierung geschützter Raum und eine regionale Pluralität für die Verfassung der Bundesrepublik grundlegend sind. Die Koalitionsvereinbarung der amtierenden Bundesregierung geht noch einen Schritt weiter und formuliert die Verankerung von „Kultur in ihrer Vielfalt“ als Staatsziel. In gewisser Weise knüpft sie mit diesem Ansinnen auf die Gründungspräambel der UNESCO von 1948 an, die argumentiert, dass Friede, wenn er nicht scheitern soll, „in der geistigen und moralischen Solidarität der Menschheit verankert werden“ müsse. Wie können jedoch Kultur in ihrer Vielfalt und Solidarität in das Handlungs- und Blickfeld der Bürger*innen gelangen? Welche Kompetenzen sind gefragt?
Mit Blick auf die Herausforderungen benötigen Menschen vermehrt die Fähigkeit, multiperspektivische Dialoge zu führen und Aushandlungsprozesse von Kompromissen zu initiieren und moderieren. Das fordert wiederum den Einsatz von Methoden ein, verschiedene regionale und globale Ebenen miteinander in Beziehung zu setzen. Die einzelnen Bürger*innen benötigen neben ihrer lokalen Verortung demnach eine globale Perspektive, die mit dem eigenen Selbst verknüpft wird, eine Konstitution bzw. Konstruktion, welche als „glokales Ich“ bezeichnet werden kann. Um das „glokale Ich“ zum Leben zu erwecken, sind wiederum Kunst- und Kulturräume von Nöten, denn sie eignen sich seit jeher, Perspektiven der Vielfalt mit den eigenen Lebenserfahrungen zu verbinden, was abschließend anhand eines Beispiels der Stadtteilkultur in Hildesheim gezeigt werden soll.
Mitten im Zentrum Hildesheims, zwischen Fußgängerzone und Bahnhof, hat sich das „Puls“ gegründet, ein Ort, so der tragende Verein, für „Inspiration, Kreativität und Vielfalt in Hildesheim“. Das Puls bietet Raum für kulturelle Veranstaltungen und Diskussionen verschiedener Couleur. So präsentierte Pengo, ein Kollektiv von Kunstschaffenden aus Ruanda, Uganda und Deutschland, zwei Ausstellungsreihen von Delovie Kwagala. In „Ffe Mu Nze (Das wir in mir)“ zeigt die Künstlerin die Vielseitigkeit und Vielstimmigkeit ihres Ichs, während sie in „Quingdom – in Transition“ queere Selbstinszenierungen von Menschen und Künstler*innen aus Uganda präsentiert, einem Land, in welchem homosexuelle Handlungen politisch verfolgt und bestraft werden. Die Ausstellung zeugt nicht nur für die Notwendigkeit der Freiheit der Kunst, sondern unterstreicht das Vermögen letzterer, ein Gestaltungsraum von Vielfalt und Mehrstimmigkeit des Selbst zu sein.
Um die globale Perspektive Kwagalas mit den Hildesheimer*innen zu verknüpfen, stellte Pengo an einem Nachmittag im Oktober mitten auf den Platz vor dem Veranstaltungsort Bänke und Tische und bot Kaffee und Kuchen umsonst an. Sie kamen auf diese Weise recht schnell und barrierefrei mit den vorbeiziehenden Menschen ins Gespräch und konnten auf die Ausstellung hinweisen. Viele Bürger*innen nutzten das Angebot, waren irritiert oder fasziniert von den Bildern und Fotografien, verknüpften diese in den Gesprächen und Kommentaren meist mit eigenen Lebenserfahrungen und lokalen Kontexten, sodass bisweilen sehr intensive Gespräche über zum Beispiel sexuelle Orientierung, Gender, Zensur und Vielfalt entstanden. Meist wurden die Impulse der Ausstellungen im Kontext der eigenen Lebenserfahrung reflektiert bzw. verknüpft.
An dieser Stelle verdeutlicht sich die Kraft der Stadtteilkultur. Sie kann Perspektiven und Geschichten aus dem globalen Raum mit den Erfahrungen und Verortungen der Region in Beziehung setzen. Die Öffnung der Gesellschaft, die Möglichkeit, Transformationen auch im eigenen Stadtteil bewusst begegnen und reflektieren zu können, die aktive Verknüpfung des eigenen Erfahrungskontexts mit denen anderer Menschen und Kulturen, werden hier erleb-, verhandel- und moderierbar. Das glokale Ich erhält einen Raum, Gestalt anzunehmen und sich Kompetenzen anzueignen, den Krisen und ihren Spannungsfeldern gemeinschaftlich in Vielfalt begegnen zu können.