Unsicherere Zukünfte nutzen – Futures Literacy für Zukunftsgestaltung

In einer Welt, die immer unsicherer und komplexer wird, nutzen Menschen Zukunftsvorstellungen als Anker ihrer Hoffnung. Die zugrunde liegenden Annahmen und Wertorientierungen sind oft unbewusst und werden selten hinterfragt. In ideologischen Auseinandersetzungen prallen diese Zukunftsbilder aufeinander. Bleiben sie unreflektiert, können sie als Angriff verstanden werden, statt über die Unterschiede in einen Dialog zu treten und neue Ideen und Lösungen zu finden. Eher entstehen ideologische Inseln, die sich voneinander abgrenzen, weil alle ihre eigene gute Zukunft gestalten wollen. Allerdings gibt es mindestens so viele Zukünfte wie Menschen. Eine Anerkennung der verschiedenen Zukünfte ist grundlegend, um mit den Unsicherheiten und Veränderungen der Zukunft umgehen zu lernen. So die Zukunftsforscherin Stefanie Ollenburg in ihrer Keynote auf dem 25. Hamburger Ratschlag Stadtteilkultur.

Autorin: Stefanie Ollenburg

Zukunftsforscherin Stefanie Ollenburg bei Ihrer Keynote, Foto: Miguel Ferraz

Um dem zu begegnen, hat die UNESCO Zukünftekompetenz als eine der Schlüsselkompetenzen definiert.1 Als Querschnittskompetenz umfasst sie unter anderem Kooperationsfähigkeit, Akzeptanz des Anderen, Flexibilität und Improvisationsfähigkeit, Vorstellungskraft und Phantasie sowie die Fähigkeit, mit aufkommenden Unsicherheiten umzugehen.2 Darüber hinaus ist das Bewusstsein, dass Lebewesen über interne Vorhersagemodelle oder antizipatorische Systeme verfügen, eine wichtige Komponente der Futures Literacy.3 Das Konzept wurde vom theoretischen Biologen Robert Rosen untersucht.4 Er beschreibt es als die Fähigkeit, sich zukünftige Situationen vorzustellen und sich auf sie vorzubereiten. Beispielsweise sammeln Eichhörnchen bereits im Sommer Futter, um im Winter versorgt zu sein. Futures Literacy wird daher oft als grundlegende Fähigkeit für die Gestaltung von Zukunft angeführt. Entscheidend ist jedoch, dass es dabei weniger um die strategische Planung von Zukünften geht, sondern vielmehr um das Loslassen von Konzepten. Futures Literacy umfasst somit sowohl die Antizipation von Zukünften – Anticipation of Futures – als auch die Antizipation von Ereignissen im Wandel – Anticipation of Emergence.5

Für die Antizipation von Zukünften steht eine Vielzahl von Methoden aus der angewandten Zukunftsforschung zur Verfügung, die als systematische wissenschaftliche Untersuchung wahrscheinlicher, möglicher und wünschenswerter zukünftiger Entwicklungen und deren Auswirkungen definiert ist.6 Eine klassische Methode ist die Entwicklung und Ausarbeitung von Szenarien, die als narrative Darstellung zu einem Thema verschiedene Zukünfte aufzeigen, die über Beteiligung von Expert*innen wie auch Betroffenen entwickelt werden können. Das Ergebnis sind plausible, voneinander abgrenzbare Szenarien, die extreme Entwicklungspfade aufzeigen. Sie können als Entscheidungsgrundlage für Maßnahmen der Zukunftsgestaltung dienen. Anders verhält es sich mit der Antizipation von Ereignissen im Wandel als Fähigkeit, Veränderungen zu bewältigen und mit ihnen umzugehen. Es erfordert Kreativität, Phantasie, Improvisation und das gemeinsame Ausprobieren mit anderen, um zu lernen wie es ist, sich auf Neues einzulassen. Um dies aktiv zu erfahren, braucht es Orte mit entsprechenden Angeboten, wie z.B. die vielfältigen Angebote der Stadtteilkultur.

Die Teilnehmer*innen wurden während der Keynote aufgefordert, miteinander über Zuküfte zu sprechen, Foto: Miguel Ferraz

Die Auseinandersetzung mit Ungewissheit und damit die Fähigkeit zur Zukünftekompetenz braucht beides: Antizipation von Zukünften und Antizipation von Ereignissen im Wandel. Um dies zu erreichen, setzt die UNESCO seit 2012 die Methode der Futures Literacy Laboratories ein. Dabei handelt es sich um einen strukturierten Prozess im Workshop-Format, in dem die Teilnehmenden anhand eines Themas und durch kollaboratives Vorgehen, kollektive Intelligenz, Storytelling und produktive Momente der Störung und Neuorientierung die Fähigkeit zur Zukünftekompetenz entwickeln können. Als Orientierung und zum Erlernen der Methode hat die UNESCO in 2023 ein Online-Playbook veröffentlicht.7

Futures Literacy als Fähigkeit unterstützt das Vorstellen verschiedener Zukünfte, ohne einem Plan folgen zu müssen. Insofern handelt es sich um eine Planung für Zukunftsgestaltung, die flexibel, aber auch iterativ funktioniert. Zukunftsgestaltung braucht aber mehr als Futures Literacy. Wenn Design- und Kreativmethoden mit Zukünften kombiniert werden und dies in einem strukturierten Prozess geschieht, wie im Prozessmodell Futures Design 8, kann dies Zukunftsgestaltung unterstützen.

Letztlich gibt es keine Blaupause für die Zukunft. Es braucht die Vielfalt der Perspektiven, die durch Futures Literacy bewusst gemacht und durch den Einsatz verschiedener Methoden entwickelt werden können. Durch die bewusste und aktive Auseinandersetzung mit möglichen Zukünften können Individuen und Organisationen besser auf Herausforderungen reagieren und Chancen nutzen. Der Fokus liegt auf der Entwicklung flexibler und anpassungsfähiger Strategien, um den Herausforderungen einer ungewissen Zukunft zu begegnen.

Referenzen / Links:

1 UNESCO. (2022). Futures Literacy. https://en.unesco.org/futuresliteracy/about

2 Ollenburg, S., & Ciesielski, M. (2023). Erspielte Zukünfte. In C. Sippl, G. Brandhofer & E. Rauscher (Hrsg.), Futures Literacy. Zukunft lernen und lehren. Studienverlag. https://doi.org/10.53349/oa.2022.a2.170

3 Louie, A. H. (2010). Robert Rosen’s anticipatory systems. Foresight, 12(3), 18–29. https://doi.org/10.1108/14636681011049848

4 Rosen, R. (1978). On anticipatory systems: II. The nature of the modelling relation between systems. Journal of Social and Biological Systems, 1(2), 163–180. https://doi.org/10.1016/S0140-1750(78)80004-9
Rosen, R. (2012). Anticipatory Systems: Philosophical, Mathematical, and Methodological Foundations (2. Aufl., Bd. 1). Springer New York. https://doi.org/10.1007/978-1-4614-1269-4

5 vgl. Miller, 2018, S. 15–50, Miller, R. (2018). Transforming the Future Anticipation in the 21st Century (1st Edition). Routledge. https://doi.org/10.4324/9781351048002

6 Kreibich, R. (2013). Zukunftsforschung für Gesellschaft und Wirtschaft. In R. Popp & A. Zweck (Hrsg.), Zukunftsforschung im Praxistest (S. 353–383). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19837-8_15

7 UNESCO. (2023). Futures Literacy Laboratory Playbook. https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000385485

8 Ollenburg, S. (2019). A futures-design-process model for participatory
futures. Journal of Futures Studies, 23(4). https://doi.org/10.6531/JFS.201906_23(4).0006

TEILEN MIT: