Die Zinnschmelze hat sich vor der Coronakrise in ihrem Projekt „UNANTASTBAR – Grundrechte – Greif zu!“ mit dem Grundgesetz beschäftigt. Das Projekt wurde kürzlich mit dem Hamburger Stadtteilkulturpreis ausgezeichnet. Dann kam das Veranstaltungsverbot – und vieles von dem, was das Grundgesetz garantiert, ist auf einmal nicht mehr möglich. Was bleibt, ist Sorge.
Autorin: Sonja Engler
Es ist Donnerstag, der 12. März 2020. Vorbereitungen für die Welcome Music Session, die mittlerweile 46. Ausgabe des Projekts, das die Zinnschmelze 2015 gestartet hat. Die Tontechnik steht, die Opener-Band macht den Soundcheck und der erste Stammgast aus dem Viertel holt sich ein Glas Rotwein.
Ansonsten ist noch nicht viel los, wir alle sind banger Hoffnung, dass heute Abend noch genügend Leute kommen, die gemeinsam unbekannten Melodien lauschen und später zusammen jammen werden. Die sich anstecken lassen (ja! Anstecken!) von den Grooves, auf die Bühne kommen und in die Session einsteigen, Stimmung und Rhythmik weiter entwickeln, von indonesisch über englisch zu arabisch und weiter um die ganze Welt.
Ich kann es noch nicht glauben – und will es auch noch nicht wahrhaben, dass uns bevorsteht, was an diesem 12. März schon die großen Kultureinrichtungen der Stadt tun mussten, nämlich ihre vorübergehende Schließung zu verkünden. Ein paar Tage noch wehre ich mich gegen diese Still-Stellung, dann kommt die behördliche Verfügung.
Die Situation steht gegen alles, was mein persönliches und mein berufliches Leben ausmacht: Begegnung organisieren, Menschen einladen, die miteinander Kultur schaffen und Erlebnisse teilen. Darüber nachdenken, was die Stadt braucht in der beständigen Arbeit an einem offenen und respektvollen Zusammenleben. Und was sich davon hier, im Kulturzentrum als Mosaikstein eines Ganzen, realisieren lässt.
Am 19. März war ein Diskussionsabend mit den Filmerinnen von „Zusammen haben wir eine Chance“ geplant, einer Dokumentation aus der Perspektive von rassismusbetroffenen Menschen in Deutschland. Am 2. April wollten wir mit den Kooperationspartnern des Projekts UNANTASTBAR – Grundrechte „Die Suppe auslöffeln“ und über weitere Rezepte nachdenken, die dazu beitragen, diese Rechte zu sichern.
Das sind nur zwei Beispiele dafür, was wir gerade nicht tun können, nicht sollen, nicht dürfen. Das Verbot – es macht mich erst fassungslos, es weckt meinen Widerspruchsgeist, es lässt mich hellhörig werden. Ein Sondergesetz für den Gesundheitsminister? Notstandsgesetz in Ungarn? Der Ruf nach Erntehelfern und gleichzeitig Abschottung der Grenzen für Schutzsuchende? Was machen Menschen ohne Internetzugang, wenn die Bücherhallen geschlossen sind?
Wir sind noch mittendrin in der Ungewissheit, die auszuhalten eine ebenfalls besondere Herausforderung ist. Ich bin in Sorge, wie viele Routinen sich leise einschleichen könnten und nicht nur unseren alltäglichen Umgang miteinander auf Distanz stellen. Ich bin in Sorge, dass der Schutz der Gesundheit eine nationalistische Schlagseite bekommt (vielmehr, sie schon hat) und dieses Denken sich mit einer neuen Legitimation noch schneller verbreitet als zuvor.
Erleichterung über die bald aufkommenden Debatten in der überregionalen Presse zur Frage der verfassungsgemäßen „Verhältnismäßigkeit“ der aktuellen Regelungen, die einige der wichtigsten Grundrechte berühren: die Versammlungsfreiheit, die Freizügigkeit der Bewegung. Und auch dies, die Bestärkung, dass das Grundgesetz kein Verfallsdatum hat und wir unsere geplante Veranstaltung auf jeden Fall nachholen werden und mehr noch dazu nutzen können, die Aktualität und Relevanz des Grundgesetzes herauszustellen und Angriffe darauf zu beleuchten.
Bis dahin nutzen natürlich auch wir in der Zinnschmelze die Möglichkeiten der digitalisierten Angebote, soweit sie uns sinnvoll erscheinen. Wir versuchen, das Spezifische unseres künstlerisch-sozialen Tuns zu transportieren und die Künstler*innen und die Mitmacher*innen gleichermaßen einzubeziehen.
Die Welcome Music Session wurde dann übrigens noch ein sehr besonderer, Gemeinschaft stiftender Abend.